Endlich ist ein bisschen Ruhe eingekehrt in der Gaststube. Die letzten Teller mit Mittagessen hat sie schon rausgetragen aus der Küche. Jetzt muss sie noch die Tische abwischen und dann langsam die Kaffeetafeln eindecken. Katharina ließ sich auf einen der Holzstühle fallen und streckte die Beine aus. Nur ganz kurz sitzen, dachte sie, bevor ich weitermache. Um diese Zeit ist es meistens ziemlich ruhig im Speisesaal des Hotels. Die meisten Gäste legen sich für einen Mittagsschlaf hin und ziehen sich auf ihr Zimmer zurück. Das würde sie jetzt auch am liebsten machen. Aber sie ist im Dienst. Und Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps, oder so. Auf jeden Fall sind sie und der freundliche Schweizer dahinten am Ecktisch die Einzigen, die jetzt noch da sind. Ein netter Kerl ist das. Er trägt eine kleine Nickelbrille und spricht mit diesem irgendwie charmanten Schweizer Akzent. Grüezi, sagte er vorhin zu ihr und bestellte noch einen starken Kaffee nach dem Mittagessen. Die anderen Anzugträger, die da vorhin bei ihm saßen, sind auf ihre Zimmer verschwunden. Ihre Kollegin hat erzählt, das seien alles Kirchenleute, Bischöfe. So sahen sie auch aus. Ein bisschen steif.

Katharina lugt nochmal um die Ecke, ob der Chef sie sehen kann, dann greift sie schnell nach der Tageszeitung: Es ist der 31. Mai 1934 und die Meldungen in der Frankfurter Rundschau scheinen sich zu überschlagen: Seit die Hitler-Partei an der Macht ist, scheint es tatsächlich weniger Arbeitslose zu geben. Gleichzeitig müssen aber auch alle, die arbeiten wollen, sich ganz klar zur Partei bekennen. Ein Hitler-Bild hängt in jedem Büro, auch hier im Hotel natürlich. Bei jeder Gelegenheit machen Hitler und seine Leute klar: Ohne uns läuft hier gar nichts. Wer sich an die Partei hält, den Führergruß zeigt und sich nichts zuschulden kommen lässt, dem geht es gut. Und der Kirche, der geht es wohl genauso. Solange sie brav ihre Gottesdienste halten, ist alles in Ordnung. Aber wehe, einer sagt was gegen die Partei…

Katharina lässt die Zeitung sinken. Der Schweizer hinten in der Ecke steht auf und verlässt den Raum. Neugierig läuft sie zu seinem Tisch. Die Bibel liegt aufgeschlagen auf dem Tisch. Der Römerbrief. Sie kann die Stelle kaum entziffern vor lauter Bleistift-Anmerkungen und Farbmarkierungen. Ein Absatz ist dick unterstrichen. Das 13. Kapitel. „Die Stellung zur staatlichen Gewalt“

1 Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet. 2 Darum: Wer sich der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Anordnung; die ihr aber widerstreben, werden ihr Urteil empfangen. 3 Denn die Gewalt haben, muss man nicht fürchten wegen guter, sondern wegen böser Werke. Willst du dich aber nicht fürchten vor der Obrigkeit, so tue Gutes, dann wirst du Lob von ihr erhalten. 4 Denn sie ist Gottes Dienerin, dir zugut. Tust du aber Böses, so fürchte dich; denn sie trägt das Schwert nicht umsonst. Sie ist Gottes Dienerin und vollzieht die Strafe an dem, der Böses tut.

5 Darum ist es notwendig, sich unterzuordnen, nicht allein um der Strafe, sondern auch um des Gewissens willen. 6 Deshalb zahlt ihr ja auch Steuer; denn sie sind Gottes Diener, auf diesen Dienst beständig bedacht. 7 So gebt nun jedem, was ihr schuldig seid: Steuer, dem die Steuer gebührt; Zoll, dem der Zoll gebührt; Furcht, dem die Furcht gebührt; Ehre, dem die Ehre gebührt.

Katharina lässt das Buch sinken. Alle Obrigkeit ist von Gott eingesetzt. Wer sich der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Anordnung. 

Dann ist Hitler von Gott eingesetzt, dann ist jeder Widerstand gegen ihn ein Widerstand gegen Gott? 

Liebe Gemeinde, was wir gerade gehört haben, waren Worte des Apostels Paulus. Worte aus unserer Bibel. Jedermann sei untertan der Obrigkeit. Klingelt es ihnen da auch in den Ohren? Seid gehorsam. Widersetzt Euch nicht den Anordnungen von oben. Wer sich denen widersetzt, die Macht habe, der widersetzt sich Gott. 

Und ja, es gab eine Zeit, es ist noch gar nicht lange her, da sind die Evangelischen Kirchen in Deutschland diesem Pauluswort nur allzu bereitwillig gefolgt: Die lutherischen Bischöfe zeigten den Hitlergruß, betonten in ihre Predigten, wieviel Hitler und seine Partei für das deutsche Volk taten – und schwiegen ansonsten. Sie schwiegen über die Menschen, die das Land verließen, weil sie jüdisch, schwul, aufsässig, kritisch oder einfach klug waren. Sie sagten nichts zu den Heimen, in die die Kinder gebracht wurden, die nicht normal waren. Sie sagten nichts, wenn einem Menschen das Mensch-sein abgesprochen wurde. Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Da war kein Protest, da war kein Aufschrei. Es waren wenige die Widerstand leisteten. Es war viel einfacher, mitzulaufen.

Als am letzten Sonntag in Brasilien gewählt wurde, kam ein Mann an die Macht, der offen gegen Schwule, Ausländer und so ziemlich jede andere Minderheit in Brasilien hetzt. Und er hat dabei wortgewaltige Unterstützer: Einige der riesigen Mega-Kirchen in Brasilien fördern ihn mit Wahlkampf und Propaganda: Sie verkünden das Reich Gottes, jetzt und hier, schwärmen davon, dass der Heilige Geist Menschen gesund macht, jetzt und hier – und sie haben einen Erlöser gefunden, der in der Politik das Reich Gottes auf Erden einlösen soll. Die sogenannten neuen Pfingstkirchen wollen den Teufel austreiben – und erkennen ihn im Fortschritt, in der Demokratie und der Gleichberechtigung. 

Was die sogenannten Deutschen Christen im Nationalsozialismus, die Hitler offen als Führer von Gottes Gnaden feierten und die evangelikalen Radikalen in Brasilien verbindet: Das Reich Gottes und der Staat sind für sie eins geworden. Sie wissen genau, wie der Wille Gottes lautet. Sie verehren eine staatliche Ordnung und geben ihr den uneingeschränkten Segen Gottes. Sie verherrlichen die Politik – sie fallen auf die Knie vor einem Menschen. 

Aber wie heißt es in unserem Predigttext, den die Kellnerin Katharina in der Bibel gelesen hat: Steuer, dem die Steuer gebührt. Zoll, dem der Zoll gebührt – Ehre, dem Ehre gebührt. 

Liebe Gemeinde, sobald eine weltliche Ordnung anfängt, den Himmel auf Erden zu verkünden, vergöttert sie sich selbst. Sobald eine Partei anfängt, das Heil in sich selbst zu suchen und den Menschen das Blaue vom Himmel zu versprechen – da müssen Christinnen und Christen hellhörig werden. 

Damals, 1934 in dem Hotel in Wuppertal schrieben ein paar Theologen, darunter der Schweizer Karl Barth 6 Thesen auf, sechs Aussagen, in denen sie deutlich machten, wo der Staat seine Grenze hat, haben muss: 

Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden.

Die sogenannte Barmer Theologische Erklärung entstand an diesem Tag im Mai 1934
in einem Hotel in Wuppertal. Es waren klare Worte – und sie reichten doch nicht aus.

Wir haben das große Glück, in einem Land zu leben, in dem die Menschenrechte geachtet werden, das demokratisch regiert wird. Wir haben das große Glück, in einer Ordnung zu leben, die von Freiheit, Selbstbestimmung und Gerechtigkeit gestaltet wird. Liebe Gemeinde, ich finde, eine solche Obrigkeit die sollten, ja, die müssen wir anerkennen, und ja, der müssen wir dienen. Denn sie fordert von uns Steuern, Zölle, die Beachtung der Straßenverkehrsordnung – und vielleicht noch ein paar andere Kleinigkeiten. Was unsere Obrigkeit nicht fordert: Unsere Seele. Unser Herz. Unsere Gedanken. Unsere Verehrung. Der, den wir Herr nennen, der hat Macht über uns, im Leben und im Sterben. Den beten wir an, weil er uns das Leben schenkt, das hier auf der Erde. Und weil er uns die Türen öffnet zum ewigen Leben und uns eben nicht das Blaue vom Himmel herunterholt: Keine Macht auf Erden hat Macht über uns, denn dieser Gott allein. Kein Staat. Kein Mensch.

Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, 39 weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.

Amen.

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