Wenn die Nachbarin vom dritten Stock links Verdi-Arien sang, klapperten oben im vierten Stock die Gläser. Sie sang unter Dusche, beim Lockenwickler aufdrehen und besonders gerne beim Staubsaugen. Vielleicht dachte sie, beim Lärm des Staubsaugers würde man sie nicht im ganzen Haus hören? Vielleicht dachte sie auch gar nicht nach. Vielleicht sang sie auch einfach nur gern.
Im zweiten Stock rechts roch es immer nach Waschmittel. Nicht unangenehm, nur eindrücklich. Und die rotwangige Frau und ihr Mann sahen selbst immer ein bisschen gut geputzt und wohlriechend aus. Nur Sonntags, da roch es nach Blaukraut und Semmelknödel. Ja, auch Semmelknödel können riechen.
Im vierten Stock rechts hingegen duftete es jeden Tag anders. Nach Tomaten, Knoblauch und Auberginen. Manchmal auch nach Minze, Koriander und Zimt. Und immer nach vielen Zwiebeln. Der Mann arbeitete als Teppichschneider – zumindest war das die Arbeit, die er manchmal bei den Nachbarn machte, wenn jemand sich einen neuen Teppich fürs Schlafzimmer kaufte. Die Kinder waren vor allem viele, obwohl die Wohnung auch nur vier Zimmer hatte.
Es waren zwei Häuser mit jeweils acht Wohnungen. Wenn man über den Dachboden lief konnte man ins Nachbarhaus laufen, da wo es immer nach Zwiebeln roch. Dann ganz nach unten – und dann durch den Keller wieder zurück in das erste Haus. Wenn man da wieder nach oben ging – da wohnte Sunny. Sunny war das schönste Mädchen der Siedlung. Sie hatte schwarze Haare, natürlich gefärbt. Und auch blonde, natürlich gefärbt. Ihre Nase war klein uns spitz und sie trug darin einen silbernen Stern. Dass ihr Bauch irgendwann dicker wurde, machte sie nicht weniger schön. Aber vielleicht am Anfang unglücklicher, das weiß ich nicht so genau. Ihre Eltern machte es auf jeden Fall unglücklich, zumindest am Anfang. Sie hätte es besser haben sollen. Ausbildung, feste Stelle, vielleicht Büro. Keine Sozialhilfe. Die Hälfte der Wohnungen in den beiden Häusern war für Sozialhilfeempfänger bestimmt, so hieß es damals noch. Nicht in allen Wohnungen roch es nach Waschmittel. In manchen auch nach Rauch. Und nach Alkohol. Nicht in allen Wohnungen sangen die Frauen. In manchen weinten sie auch und die Türen knallten dazu. Sunny hat sie mit Sicherheit zugeknallt, als sie an diesem Abend aus der Wohnung rauschte.
26 Und im sechsten Monat wurde der Engel Gabriel von Gott gesandt in eine Stadt in Galiläa, die heißt Nazareth, 27 zu einer Jungfrau, die vertraut war einem Mann mit Namen Josef vom Hause David; und die Jungfrau hieß Maria. 28 Und der Engel kam zu ihr hinein und sprach: Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir! 29 Sie aber erschrak über die Rede und dachte: Welch ein Gruß ist das? 30 Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria! Du hast Gnade bei Gott gefunden. 31 Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben. 32 Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben, 33 und er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben.
34 Da sprach Maria zu dem Engel: Wie soll das zugehen, da ich doch von keinem Manne weiß? 35 Der Engel antwortete und sprach zu ihr: Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das geboren wird, Gottes Sohn genannt werden. 36 Und siehe, Elisabeth, deine Verwandte, ist auch schwanger mit einem Sohn, in ihrem Alter, und ist jetzt im sechsten Monat, sie, von der man sagt, dass sie unfruchtbar sei. 37 Denn bei Gott ist kein Ding unmöglich. 38 Maria aber sprach: Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast. Und der Engel schied von ihr.
Sunny hieß eigentlich Sonja. Und sie zog die Sache durch. Machte die Hauptschule fertig. Warf die langen Haare im Bus nach hinten und zog das Mathebuch aus dem Rucksack. Ich saß manchmal vor ihr. Vor ihr, denn hinter ihr ging nicht. Die Coolen sitzen im Bus schließlich immer ganz hinten.
Danach hab ich sie eine Zeit lang aus den Augen verloren.
Und dann wieder gesehen an der Kasse beim Drogeriemarkt. Sie hat mich natürlich nicht erkannt. Aber sie war genauso schön wie früher. Mit glitzerndem Silberstern in der Nase. Das Kind hatte sie natürlich nicht dabei. Eine Kita gab es nicht. Aber Oma und Opa. Und einen Sandkasten vor unserem Haus. Kinder und Mütter und Opas mit Thermoskannen und Butterkeksen gab es eh genug. Fiel eines mehr auch nicht auf. Ronja hieß sie. Fast wie Sonja also.
Liebe Gemeinde, finden Sie es kitschig, dass ich Sunny mit Maria vergleiche? Weil es so ein Klischee ist? Das Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen, aus dem Glasscherbenviertel, das dann alleine ihr Kind aufzieht? Und doch irgendwie alles gut hinbekommt?
Ja, liebe Gemeinde, das ist kitschig. Das macht es aber nicht falsch. „Fürchte Dich nicht. Du hast Gnade vor Gott gefunden. Und bei Gott ist kein Ding unmöglich.“ Das IST kitschig. Dass ein Engel erscheint, der Dir die Angst nimmt vor der Zukunft. In weißem Gewand vielleicht sogar und mit Flügeln. Das IST kitschig.
Und dann sagt sie auch noch das: „Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast.“ Sie gibt dem Engel, sie gibt Gott ihr Leben in die Hand. Mir geschehe, wie Du willst.
Im Magnificat, dem Loblied der Maria, das wir vorher gesungen haben heißt es: „Du hast die Niedrigkeit Deiner Magd angesehen. Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder. Denn er hat große Dinge an mir getan.“
Als Magd bezeichnet sie sich, als Dienerin Gottes. Und lobt Gott dafür, dass er ihr Leben aus den Angeln gehoben hat. Dass er ihr alles genommen hat, was sie kannte und etwas gegeben hat, was sie nicht verstand.
Sie wirkt gottergeben, die Maria die wir kennen. Aus den Bildern und der Lehre der treuen und frommen Muttergottes. Sie wirkt auch ein wenig brav und bieder, finde ich. Dabei muss sie doch wahnsinnige Angst gehabt haben damals! Sie muss doch um ihr Leben gefürchtet haben! Um das Leben, das sie kannte.
Nein, liebe Gemeinde, ich glaube nicht, dass Maria sich über ihre Wahl zur „Mutter Gottes“ gefreut hat. Sie hat es nicht als Auszeichnung erlebt. Fürchte Dich nicht, hat der Engel zu ihr gesagt. Denn Du hast Gnade vor Gott gefunden. Gott will Gutes für Dich. Irgendwas hat sie dazu gebracht, ihm das zu glauben. Und nicht nur das. Sie hat ihm nicht nur geglaubt. Sie hat Mut gefasst. Anderen Mut als vorher. Lebensmut. Vielleicht hat sie es nach und nach dann zwar nicht als Auszeichnung, sondern als Auftrag gesehen, dass sie ein Kind unter dem Herzen trägt. Sie hat Gott gelobt. Ihn beschworen: Du sollst die Gewaltigen von Thron stoßen. Und die Niedrigen erheben. Die Hungrigen sollst Du mit Gütern füllen und die Reichen leer ausgehen lassen. So wie Du es an mir getan hast. Mich hast Du erfüllt. Mit Leben und Liebe. Mit unverhoffter Hoffnung.
Die Maria hat dem Engel sein „Fürchte Dich nicht!“ geglaubt. Das Fürchte Dich nicht hat sie getragen all die Jahre hindurch.
Ich weiß nicht, ob zu Sunny damals jemand „Fürchte Dich nicht!“ gesagt hat. Vielleicht nicht. Vielleicht eher sowas wie: „Wir kriegen das schon irgendwie hin.“ Das ist aber genauso gut. Fürchte Dich nicht. Vielleicht sind das Worte, die jedem Menschen gut tun, der ein Kind erwartet. Frauen und Männern. Müttern und Vätern. Wenn Politiker und Zeitungen über den §219a diskutieren, dann vergessen sie das manchmal. Dass es wichtig ist, das zu sagen „Fürchte Dich nicht.“ Dass Menschen Beistand bei ihren Entscheidungen brauchen. Egal, welche sie dann treffen. Weil man Mut braucht, um weiterleben zu können, egal wie.
Das Haus, in dem Sunny und ich aufgewachsen sind, gibt es immer noch. Die Fassade wurde renoviert, das Treppenhaus auch. Den Sandkasten gibt es auch noch. Ich mag Häuser mit mehreren Wohnungen darin. Man hört Frauen Arien singen und trifft Leute im Treppenhaus. Es riecht nach Zwiebeln und manchmal gibt es Waffeln. Für alle. Am Sandkasten.
Ich mag die Mehrfamilienhäuser auch fast ein bisschen lieber als die ordentlichen Reihenhäuser mit doppelten Zäunen und Porzellanschildern über den Briefkästen. Vielleicht weil man den Mehrfamilienhäusern schon ansieht, dass darin gelacht und gestritten wird und nicht alles gold ist. Vielleicht mag ich sie auch, weil sie mich an Sunny erinnern. Und an das „Fürchte Dich nicht!“ des Engels.