Predigt am 15.September 2019 in der Christuskirche in Prien am Chiemsee
„…dann lad ich Dich nicht zu meinem Geburtstag ein!“ und zu war die Tür. „Dann lad ich Dich nicht zu meinem Geburtstag ein – das ist so ungefähr die schlimmste Drohung, die meine vierjährige Tochter aussprechen kann – mir gegenüber, wohl gemerkt. Dass ich manchmal ganz froh wäre, wenn mir der ganze Kindergeburtstagskram erspart bliebe, steht auf einem anderen Blatt…für meine Tochter ist es auf jeden Fall eine Adelung, einer Veredelung einer Beziehung, wenn sie jemanden zu ihrem Geburtstag einlädt. Und eine umso größere Schmach ist es, wenn sie jemanden nicht einlädt.
Dass ich ihre Mutter bin und sie wohl oder übel ihren Geburtstag noch ein paar Jahre auch mit mir verbringen muss, das ist für sie zweitrangig. Familie kann man sich eben nicht aussuchen. Und das denken sich nicht nur pubertierende Jugendliche, die keinen Bock mehr auf Urlaub mit ihren Eltern haben. Das denken sich auch 50 jährige Söhne, die das Meckern des Vaters über seinen Job nicht mehr hören können. Das denken sich 60 jährige Frauen, die die angeblich wohlmeindenen Ratschläge der Tochter am liebsten mit einem „ich weiß schon, was ich tue!“ vom Tisch fegen würde. Familie können wir uns nicht aussuchen. Sie ist einfach da. Wir werden in sie hineingeboren. Die Menschen aus unserer Familie stehen uns zumindest in den ersten Jahren unseres Lebens näher als sonst irgendjemand. Sie kennen unsere größten Schwächen – die schlechte Laune am Morgen, die Ungeduld. Sie kriegen uns ungeschminkt ab. Im wörtlichen wie im übertragenen Sinne.
Aber genau diese Nähe ist es, die irgendwann kritisch wird. Anstrengend. Es ist die Nähe in einer Familie, die wir ungefragt auferlegt bekommen. Wir teilen dasselbe Bad, oder zumindest denselben Küchentisch. Wir hören die anderen – immer. Wir sehen sie – jeden Tag. Und ich vermute, ich bin nicht die Einzige, die das manchmal schwer erträgt. Besser gesagt: Es nervt. Sehr.
Liebe Gemeinde, man darf so etwas heute sagen, ohne gesellschaftlich geächtet zu werden. Es ist legitim, die eigene Familie anstrengend zu finden. Und zwar sowohl für einen Jugendlichen, als auch für eine Mama und einen Papa. Und für Opa und Oma auch. Von den Männern und Frauen, die ihre Kinder alleine großziehen, ganz zu schweigen. Und Patchworkfamilien, Regenbogenfamilien – sie alle, wir alle, sollten uns die Freiheit rausnehmen, den Goldglanz von der Joghurt-Werbung ab und zu ein bisschen abzuschlecken. Familie ist bei aller Liebe auch Streit am Küchentisch, Türenknallen und laute Musik im Kinderzimmer. Und jetzt, liebe Gemeinde, hören wir uns mal dazu den heutigen Predigttext an:
(Mk 3)
31 Und es kamen seine Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen. 32 Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir. 33 Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder? 34 Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! 35 Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.
Ja, dann – hätten wir das ja jetzt geklärt! Jesus hebt alle Familienbeziehungen auf und sucht sich eine neue Familie – ein Wahlfamilie aus seinen Nachfolgern, aus denen, die mit ihm durchs Land ziehen. Ein spätpubertierender Jesus, der seine Herkunft verleugnet? Nein. Ich glaube nicht, dass uns die Verfasser des Evangeliums hier eine Art Home-Story aus der Jesus-Gerüchteküche präsentieren wollten.
Diese Geschichte ist so prominent im Neuen Testament platziert, da muss schon etwas mehr dahinterstecken.
Liebe Gemeinde, ich glaube, auch in dieser Geschichte geht es um Nähe. Es geht um die Nähe, die Menschen spüren können, wenn sie eine gemeinsame Sache tragen. Weil sie spüren, dass etwas sie verbindet. Kennen Sie das? Ich bin mir sicher, Sie kennen es. Eine Liebe zur Musik. Zu Blumen. Zu Motorrädern. Zum Laufen. Ich weiß, dass Jugendliche das kennen: Eine Nähe zu jemandem, dem es ähnlich geht wie mir selbst. Weil er das gleiche verloren hat wie ich. Weil sie die gleiche Angst hat wie ich. Weil er die gleichen Träume hat wie ich. Eine solche Nähe zu einem Menschen ist kostbar. Und wunderbar. Wenn wir Glück haben, gibt es mehrere Menschen in unserem Leben, zu denen wir so eine Nähe spüren. Mit dem wir eine besondere Liebe teilen. Manchmal sind das Freunde. Aber manchmal auch Schwestern oder Arbeitskollegen. Eigentlich ist es egal, wer es ist. Wenn man es erlebt, ist es fast verstörend – dass es das gibt: Nähe ohne Argumente. Verbunden-sein ohne äußere Notwendigkeit.
Eben ohne durch äußere, formale Bedingungen verbunden-sein-zu müssen. Das ist der Unterschied zur Familie. Und DAS ist der Hintergrund für den Satz von Jesus: Um Gottes Nähe zu spüren, müsst Ihr keine äußeren Bedingungen erfüllen. Ihr müsst nichts vom Glauben wissen. Keine besonderen Lieder können und nicht besser sein als die anderen. Gottes Nähe beruht nicht auf Bedingungen. So, wie unsere Nähe zu Menschen genau dann frei und wunderbar und kraftvoll wird, wenn sie bedingungslos ist. Wenn sie uns trägt. Wenn sie uns heller strahlen lässt, als wir es alleine tun könnten. Eine solche Nähe muss man nicht begründen. Man muss sie auch nicht in feste Normen gießen.
Manchmal erfüllen unsere Familien unsere Sehnsucht nach Nähe und Vertrauen. Manchmal auch nicht. Weil sie konfliktbeladen sind und schwierig. Manchmal verlieren unsere Freundschaften diese Nähe. Weil wir uns verändern, unsere Sicht auf das Leben sich verändert. Und sowohl in der Familie, als auch in unseren Freundschaften tut das weh. Es nimmt uns etwas von unserem Vertrauen in unsere Beziehungen. Weil wir Nähe brauchen. Wie die Luft zum Atmen. Zu Menschen, die uns lieben. Bei denen wir das Herz auf laut stellen können. Und die Gedanken auf Pause. Wir brauchen Menschen, mit denen wir das Leben loslassen können.
Liebe Gemeinde, ich glaube, Gottes Nähe kann manchmal sein wie ein solcher Mensch. Weil er uns umgibt mit Ewigkeit, die größer ist als wir. Weil wir dabei loslassen können von uns selbst. Gottes Nähe kann unser Herz auf laut stellen – weil es keine Tabus gibt für das was wir denken und sagen könnten. Gottes Geist kann die Luft zum Atmen sein, wenn das Leben uns den Atem raubt.
Hin zu Dir, Gott, das ist schwieriger zu sagen als Hin zu Dir, Du Mensch, dem ich nahe bin. Und beides ist gut und beides brauchen wir, glaube ich. Manchmal fließt es zusammen. In einem Lieder der Sängerin Lea höre ich beides. Und ich glaube, man kann einen Menschen vor sich sehen. Oder mehrere. Oder Gott. Anfang und Ende unseres Lebens
Wenn ich sein muss wie ich wirklich bin
Ohne Maske, ohne fakes Grinsen
Ich würd‘ zu dir gehen
Wenn Träume platzen, die Erde bebt
Es um Leben oder Sterben geht
Ich würd‘ zu dir gehen
Wenn ich glücklich bin, fast am Ziel
Ich das teilen muss, weil ich so sehr fühl‘
Ich würd‘ zu dir gehen
Wenn die Tränen kommen und ich trauern muss
Und ich da einfach durch muss, bis zum Schluss
Ich würd‘ zu dir gehen
Wenn die letzte Stunde für mich schlägt
Und ich die Wahl hab, wohin ich mich leg‘
Ich würd‘ zu dir gehen. Amen.