Predigt zum Ostersonntag 2018
Die Luft war klar und kalt. Der Boden noch hart von der Nacht.
Die Morgensonne kletterte zwischen den Bäumen hervor, als die zwei Frauen an dem Sonntag, den wir heute Ostern nennen, zum Grab liefen. Als sie vor dem Felshügel stehen, fällt ein Lichtstrahl vor ihnen auf den Boden. Der Stein, der gestern noch den Zutritt versperrte, lässt nun einen Spalt frei. Ein Riss voller Licht fällt in die Grabhöhle. „Und sie sahen hin und wurden gewahr, dass der Stein weggewälzt war, denn er war sehr groß.“ Das Grab ist leer. Und sie können ihren Augen nicht trauen, weil nicht wahr sein kann, was nicht wahr sein darf. „Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden, er ist nicht hier.
Und sie gingen hinaus und flohen vor dem Grab, denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen.
Die beiden Frauen rennen weg, so schnell sie ihre Füße tragen. Auf den Leichnam, auf den toten Körper Jesu wären sie gefasst gewesen. Auf den Tod waren sie eingestellt. Auf die Kälte des Grabhügels. Aber einen Engel, Worte der Hoffnung das hatten sie nicht erwartet.
Wir rennen davon, wenn das Leben uns zu nahekommt. Wir rennen davon, wenn wir weder vor noch zurückkönnen. Feststecken in der eigenen Angst. Verstrickt sind im eigenen Bild vom Glück. Gefangen sind in der festen Erwartung an uns selbst. Dann rennen wir davon. So weit wir können und mit einem Tränenschleier vor den Augen. Es sticht in der Kehle und das Herz pocht gegen die Brust. Sind Sie schonmal so weggelaufen?
So schnell gelaufen, dass Sie tatsächlich nicht wollten, dass jemand hinterher kommt? Warum sind Sie weggelaufen? Aus Panik vor der Zukunft? Aus Verzweiflung über die Vergangenheit? Oder aus Liebe zur Gegenwart?
Manchmal läuft man weg, bis es nicht weiter geht. Und steht dann an der Grenze, mit leeren Händen. Am äußersten Meer, da wo nur noch tiefes Wasser ist. Und ganz viel Ich und ganz wenig Gott. Ganz viel Angst und ganz wenig Gott.
„Aber der Herr ließ einen großen Fisch kommen, um Jona zu verschlingen. Und Jona war im Leibe des Fisches drei Tage und drei Nächte.“ Jona, ein Prophet, ist Gott davon gelaufen: Gott hatte ihm einen Auftrag gegeben – den fand Jona definitiv eine Nummer zu groß für ihn. Auf und davon, dachte er sich, bloß nicht nach Ninive!
Davon gelaufen ist er, wie wir, der Jona. So schnell gerannt, bis zum äußersten Meer. Weggelaufen, weil er nicht erfüllen konnte, was das Leben von ihm wollte. Weggelaufen, weil er nicht tun konnte, was Gott von ihm verlangte: Nach Ninive gehen. Weggelaufen vor der Verantwortung, der Aufgabe, die zu groß war. Er konnte nicht.
Manchmal, wenn das Leben uns zu nahe kommt, dann rennen wir davon. Jona rennt Gott davon, läuft davon und hofft, dem Leben zu entkommen. Und dann, als er fällt, hinabtaucht in die dunklen Tiefen des Meeres, da wo nur noch Angst ist und wenig Gott, da schluckt ihn der Fisch.
Und dann sitzt er da, im Bauch des Fisches. Gerettet und doch verschluckt. Umhüllt von sich selbst. Gerettet und doch auf sich selbst zurückgeworfen. Man kann körperlich unversehrt und heil sein und innen drin trotzdem kaputt. Und so kann man ganz schön lange durchs Leben gehen. Indem man die Angst und die Verzweiflung fest in sich einschließt. Im Bauch des Fisches bleibt. Niemanden hineinschauen lässt in die eigene Dunkelheit. Sich einschließt in die eigene Logik. Wenn da drin ist, dann braucht man keinen Gott. Dann will man keinen Gott. Keinen, der einen herausholt aus dem Fischbauch. Man ist ja davon gelaufen. Ich bin ja davon gelaufen vor der Schuld, die mich eingeholt hat. Ich bin ja davon gelaufen, weil ich das Gefühl hatte, das wird mir hier zu groß, das kommt mir hier zu nah. Aber dann sitzen wir im Fischbauch, eingeschlossen in uns selbst. Und das Leben, vor dem wir davon gelaufen sind, es ist uns jetzt versperrt.
Nein, wir sind nicht wie Jesus, der den Weg an sein Kreuz ging. Der zwar zu Gott betete und flehte, er mögen den Kelch an ihm vorüber gehen lassen. Und der ihn dann austrank, bis zum letzten Tropfen. Wir sind nicht wie Jesus. Wir laufen davon wie Jona. Wir laufen vor Ninive davon, weg von dem, was uns Angst macht. Wir laufen davon und suchen das Leben woanders. Aber ich glaube, irgendwann holt es uns ein, das Leben. Irgendwann halten wir es im Bauch des Fisches nicht mehr aus. Irgendwann wird der Riss, durch den wir das Licht sehen, größer. Es gibt ihn nämlich, den Riss, durch den das Licht in uns hineinfällt.
Weil keiner es auf Dauer aushält, sich dem Leben zu verschließen. Weil wir einen Augenblick etwas vom Leben erhaschen, das uns Freiheit verspricht. Weil das Licht des Lebens sogar bis in den Bauch des Fisches leuchtet. Vielleicht sehen wir das Licht in einem Menschen, der so hell leuchtet, dass sein Licht auf uns fällt. Vielleicht sehen wir das Licht auf der anderen Straßenseite.
Drei Tage im Bauch des Fisches können sich viel länger anfühlen. Manchmal dauern sie ein halbes Leben.
Gekreuzigt, gestorben und begraben. Hinabgestiegen in das Reich das Todes. Am dritten Tage auferstanden von den Toten, heißt es im Glaubensbekenntnis. Wann die drei Tage vorbei sind? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur: Sie werden vorbeigehen. Sie werden vorbeigehen, wenn der Riss größer wird. Wenn das Sehnen nach dem Leben in uns überhand nimmt. Wenn wir imstande sind, die Augen zu heben. Zum Himmel zu sehen.
Wir entkommen dem Bauch des Fisches nicht aus eigener Kraft. Wir können die Tür, die uns vom Leben trennt, nicht selbst aufstoßen. Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür? Es ist der, vor dem wir davon gelaufen sind. Dem wir nicht unter die Augen treten konnten, weil wir das Leben, das er uns zumutet, nicht leben konnten. Es ist der, dessen Nähe wir nicht ertragen haben, weil sie uns unsere Angst vor Augen geführt hat. Er wälzt uns den Stein von unserem Grab. Er reißt den Himmel über uns auf. Er macht aus dem Riss, durch den das Licht fällt, einen Sonnenaufgang. Er macht aus dem Dämmerlicht die Morgenröte. Er wälzt uns dem Stein weg, der sich zwischen uns und das Leben gelegt hat. Gott reißt den Himmel über uns auf. Wir werden das Leben finden. So oft wir auch davonlaufen. Und wir werden davon laufen. Immer wieder. Man kann Gott lange mit Erfolg davonlaufen. Man kann sich lange vergraben vor dem Licht. Aber wir sind nicht für den Tod gemacht. Wir sind für das Leben geschaffen. Wir sind nicht dem Tod geweiht, sondern mit dem Leben gesegnet. Er ist auferstanden. Wir werden auferstehen. Immer wieder. Amen.