Sie zog die Vorhänge zu. Hellblaue Vorhänge vor einer gelben Wand. Die sollten bestimmt sonnengelb sein. Sollte hell und freundlich sein. Sie konnte sich den Text dazu in der Broschüre genau vorstellen: „In unseren freundlich eingerichteten Zimmern können Sie wieder zu Kräften kommen. Ausgestattet mit modernster Technologie und…“ aber was soll’s. Sie war nicht hier, um über die Wandfarben zu philosophieren. Ihretwegen konnten die Wände hier schlammbraun sein. Sie starrte schon seit so vielen Tagen immer wieder an die Wände und sah doch nichts. Sie sah nichts und sie sah alles. Sie sah all das, was sie lieber nicht sehen würde. Sie sah die leuchtenden Erinnerungen. Sie sah die Bilder, die immer wieder von vorne in ihrem Kopf abliefen.
Sie setzt sich auf ihren Stuhl zurück. Sie sitzt schon so lange in diesem Stuhl, dass sie gar nicht mehr weiß, wie sie sitzen soll. Deshalb steht sie zwischendurch auf um so unnütze Dinge zu tun, wie die Vorhänge zuzuziehen, Wasser zu holen draußen auf dem Gang, oder sich die Hände in dem kleinen Badezimmer zu waschen. Jedesmal, wenn sie dann in den Spiegel schaut, erschrickt sie über ihre blasse, trockene Haut und die dunklen Schatten unter ihren Augen. Als hätten sich all die Nächte, die Tränen, diese Sorgen tief, ganz tief in ihr Gesicht eingegraben.
Und es wäre kein Wunder. So tief hat es sich in ihre Seele eingegraben, festgekrallt in ihr. Seit er da lag, seitdem er nur noch hier war, nur noch in diesem Krankenhauszimmer, seitdem er nur noch der war, der da lag, seitdem war auch ihr Leben nur noch hier. Als wäre ihre Seele an seine gekettet und solange er hier lag, war auch für ihre Seele nur noch ein Platz möglich. Hier bei ihm, in diesem Zimmer.
Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr.2
Sie war froh um jeden Tag, jede Stunde, die sie zusammen gehabt hatten. Jetzt war sie froh. Jetzt, wo sie gern jede Minute zurückgeholt hätte, in der sie ihn abgewiesen hatte. Wenn er sie am Telefon nervte mit seinen immer gleichen Geschichten. Wenn er ihr gegenüber saß und immer die Augenbrauen auf diese eine Art und Weise hob, die sie schon als Kind beim Abendessen nicht ausgehalten hatte. Eine Arroganz hatte er an den Tag legen können, wie sie nur große Brüder ihren kleinen Schwestern gegenüber zeigen konnten.
Sie waren nicht oft einer Meinung gewesen, eigentlich nie. Er war der Spießer, sie die Unbeständige. So waren die Geschwisterregeln gewesen.
Die Diagnose hatte daran nicht viel geändert. Zunächst. Und dann doch. Weil ihr die Sorge um ihn langsam näher kam, als sie je gedacht hätte. Weil eines Morgens dieser Kloß im Hals da war, der nicht mehr wegging, egal wie oft sie ihn hinunterschluckte. Weil das Essen nicht mehr schmeckte, der Kaffee immer bitter und die Sonne immer zu grell war.
Sie beugte sich zu ihm. Sie nahm seine Hand. Welches Recht hatte sie nur, so traurig zu sein. War es nicht egoistisch von ihr, ihn nicht gehen zu lassen? Er hatte es so lange versucht. Er war so lange dabei geblieben, dass es nicht wahr war. Dass dieses Leben sein Leben bleiben würde. Dass dieser Himmel sein Himmel war. Dass dieses Leben ihn noch brauchen würde.
Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. 3 Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen!
Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; 4 und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. 5 Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!
Sie wollte kein neues Leben. Sie wollte jetzt und hier das Alte zurück. Den alten Himmel und die alte Erde.
Aber diesen Himmel gibt es nicht mehr.
Liebe Gemeinde, wenn jemand stirbt, wenn uns jemand verlässt, dann gibt es diesen Himmel nicht mehr. Oder anders: Für uns gibt es ihn noch. Aber der andere sieht nicht mehr mit uns nach oben.
Es gibt nicht mehr Dich und mich. Es gibt uns nicht mehr nebeneinander.
Es gibt nicht mehr, dass Du wegwischst, was ich fürchte.
Es gibt nicht mehr, dass Du mehr aushältst als ich bin.
Nein, diesen Himmel gibt es nicht mehr.
Es war mein und Dein Leben, gestern und vorgestern. Aber diesen Himmel gibt es nicht mehr.
Auf den Stühlen im Krankenhaus. Zuhause vor dem Kleiderschrank. Am Grab bei den Blumen. Da gibt es keinen Thron und kein Alles neu. Da gibt es Erinnerungen. Und ein früher und ein damals und manchmal ein hätte ich nur.
Da gibt es dieses Leben und diese Erde und diesen Himmel.
Nur manchmal, wenn man alleine ist oder unter ganz vielen Menschen. Manchmal, wenn es regnet oder die Sonne scheint. Manchmal, eigentlich egal, ob Montags oder Sonntags. Eigentlich kann es immer passieren. Da ist es auf einmal.
Dann knirscht der Kies unter den Füßen. Und mein Blick fliegt wie aus Versehen nach oben. Und da ist er, der Himmel. Er ist immer noch da. Er scheint mehr von der Ewigkeit zu wissen als ich. Er umspannt mich. Meine Angst. Meine Fragen. Mein Vertrauen, das gar nicht mehr da ist. Dieser Himmel weiß mehr vom Leben als ich. Hat schon alle Jahreszeiten gesehen und noch eine mehr. Hat schon so viele Abschiede gesehen. Dieser Himmel umspannt mich.
Das ist der zweite Himmel. Das ist der zweite Himmel, obwohl der erste noch tief in mir ist. Das Lachen und die Liebe. Die Musik, die Sahnetorte, die Marmelade zum Frühstück, dein Duft, Deine Nähe. All das war der erste Himmel. Für kein Geld der Welt gäbe ich ihn her. Nicht dem Tod geb ich ihm und nicht dem Vergessen. Aber der zweite Himmel nimmt mir nichts.
Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. 5 Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!
Liebe Gemeinde,
Das, was Gott wegwischt, das sind nicht die Erinnerungen. Gott nimmt uns nichts von unserer Liebe für die, die uns fehlen. Er wickelt sie sogar nochmal extra fein in Goldglanzpapier ein. Rahmt sie. Stellt sie uns auf den Frühstückstisch.
Dass es einen zweiten Himmel gibt, auf den ich hoffe, das macht mein Leben nicht sorgloser. Es macht mich nicht weniger traurig. Dass wir manchmal an einen zweiten Himmel glauben können, zeigt uns nur, dass wir Menschen des Lebens bleiben.
Die Auferstehung macht mich das Leben lieben. Dem das Lachen nicht im Hals stecken bleiben muss, wenn es langsam wieder kommt.
Wir sind Menschen des Lebens. Das macht den Tod so unsagbar schmerzhaft. Das macht ihn so unaussprechlich groß. Wir gehören ihm nicht, er nimmt uns nur etwas. Er nimmt etwas, von dem wir dachten, es bleibt.
Und der Tod ist nicht nur am Grab und am Friedhof. Der Tod ist da, wo die Liebe andere Wege geht. Der Tod ist da, wo das Wollen und Wünschen nicht mehr reicht, um den Menschen zurückzuholen, der gehen will. Der Tod ist da und er ist mein Lebensgegner. Aber er ist nicht stärker als wir. Er ist nicht stärker als unser Träumen. „Wir werden sein wie die Träumenden“ sagt ein alter Psalm. Und die Träume, die gibt es nicht nur, wenn wir an den ersten Himmel denken. Die Träume, die gibt es erst recht von morgen. Weil wir Sterne mit zwei Himmeln sind. Weil wir Menschen des Lebens sind. Die träumen und hoffen und lieben müssen, damit wir nicht ersticken. Wir sind Menschen des Lebens. Wir können den zweiten Himmel sehen, irgendwann, ohne den ersten zu verlieren. Dann ist der Himmel blau wie noch nie. Das Leben finden wir nicht nur in der Erinnerung. Wir finden es nicht nur im Hier und Jetzt. Wir finden es auch, wenn wir uns erlauben zu träumen. Neue Bilder zu malen. Von der Hoffnung.
„Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und siehe, ich mache alles neu.“
Amen.