Ich war länger nicht dort. Nicht in der kühlen, stillen Kirche. Nicht zwischen all den Menschen, die nichts miteinander zu tun haben, als jetzt zu singen und zu beten. In sich hinein zu sprechen, zuzuhören. Ich war lange nicht dort, nicht im Gottesdienst, nicht am Sonntag an diesem Sonntagsort. Ich war lange nicht an diesem Sonntagsort in mir selbst. An dem Ort, der zusammenhält, was mein Leben immer wieder auseinanderreißt.
Dabei brauche ich beides: Das Zusammenhalten und das Aufreißen, das Heilen und den Schmerz. Ich finde, das Leben ist beides: Es tut weh und es macht glücklich. Menschen, die viel lesen und denken, nennen das Ambivalenz oder sogar Ambiguität, aber man kann es auch einfacher sagen: Es ist immer beides.
Was das Leben oft weniger hat: Platz für beides. Das ist verständlich, denn das braucht dann ziemlich viel Platz. Und Zeit und Stille, manchmal auch laute Musik. Wer beides fühlen will, braucht den Mut, die Wunden offen zu halten.

Kerzen, Brot und Wein, ein weißes Tischtuch. Ein Halbkreis von Menschen, die sich ein Herz fassen, von der Bank aufstehen, ein wenig Scham und ein wenig Heiligkeit lässt sie sich erheben und nach vorne gehen.
Abendmahl verbindet für mich Heil und Selbstliebe, Gottes Nähe mit der Distanz zu meinen Bewertungen. Abendmahl ist unverzichtbar, unersetzbar und niemals klein zu schätzen – das ist für mich gesättigte Erfahrung, theologische Überzeugung und mein tiefer Glaube. Das Abendmahl ist die Praxis des christlichen Glaubens, die Selbsttätigkeit, Empfangen und verändertes Weiterleben symbolisiert. Die Symbolkraft von Brot und Wein geht auf ihre Elementarität zurück und gleichzeitig darüber hinaus: Sie hängt nicht an Gluten, Alkohol, Kelchen, blassen Hostien, Halbkreisen und Desinfektionstüchern, aber sie leidet daran auch nicht. Das Abendmahl ist erhaben über uns. Das macht es zu einer Glaubenspraxis, die weder eine Erlaubnis, noch eine Legitimation braucht.

Das Abendmahl wird für mich in drei Praktiken erfahrbar. Diese drei Praktiken erschließen mir Tiefe und Klarheit, ich halte sie nicht für austauschbar, aber auch nicht für unumstößlich. Ihre Spuren werden sich auch in anderen Interpretationen des Abendmahls wiederfinden. Sie lauten: Erinnerung, Gemeinschaft und Versöhnung.
Alle diese Praktiken finden sich in der Liturgie, das heißt in den Worten wieder, die während der gottesdienstlichen Feier gesprochen werden. Aber sie entstammen nicht dem Ritus, sondern dem Alltag, dem Erleben. Und daher bekommen sie ihre Kraft und die Stärke, sich jahrtausendelang in Köpfen und Büchern festzuschreiben.

Erinnern
„Schau mal, das bist Du!“ – „Da sehe ich aus wie Oma!“ Und so entdecken wir uns wieder und wieder. Erinnern uns an den geblümten Stoff auf dem Bett, die roten Handschuhe, die Pumuckl-Torte zum Geburtstag. An das Ziehen im Bauch, an das Vermissen. An die Momente, in denen niemand fotografiert hat. Die fest in unserer Seele eingeklebt sind, beschriftet und vermessen als Muster, Lebenserfahrung und glücklichste Momente. Wir erinnern uns erleichtert und befreit, gleichzeitig sehnsüchtig und gebunden an das, was war. „Anamnese“ nennt das die Liturgie und bindet unser Abendmahl fest an Jesus, seiner Gemeinschaft und seinem Glauben. Aber vor Allem an das tiefe Vertrauen, das er in dieses Mahl gesetzt hat: Jetzt und Hier, das ist für immer alles, was Ihr braucht. Ich bin das Brot, ich bleibe es auch. Und Ihr werdet daran satt werden. Bittere Kräuter und die Schiefer aus dem groben Holz werden Euch bleiben. Mit Wein und Wasser stoßt Ihr an, seht Euch an. Erinnert Euch: Ich bleibe bei Euch, mein Heil kann niemand von Euch nehmen.

Gemeinschaft
Und da ist kein Wenn und Aber. Kein „aber nicht mit Dir und nur ohne Dich“. Die Gemeinschaft der Zwölf, die an diesem Abend zusammen sind, wir nicht auseinanderdividiert, es wird nicht sortiert, keine Hierarchien gebildet. Nur: Ich hab mich so danach gesehnt, hier mit Euch zu sitzen und zu essen. Mit Euch zusammen. Und das, was wir bisher zusammen hatten, das bleibt und geht zugleich über uns hinaus. Später, wenn da nur noch Schmerz ist, werdet Ihr es sein, die bleiben. So wie der Wein jetzt durch Eure Kehlen fließt, so wird mein Trost in Euer Leben fließen. Ein unsichtbares Band verbindet Euch, genau jetzt. So unterschiedlich Ihr seid: Verräter*innen, Vertraute, Kämpfer*innen und Angsthasen.

Versöhnung
Weit vor der Versöhnung kommt die Akzeptanz. Noch davor das Hinschauen. Das Fühlen, das Mitfühlen mit den Anderen und mit mir selbst. Zugewandtes, radikales, unverstelltes Hinschauen, das all dem glaubt, was kaputt und verletzt ist. Vielen Menschen fällt es leichter, das bei anderen zu sehen, anderen Menschen fällt es leichter, das bei sich zu sehen und den Schmerz der anderen wegzuargumentieren, zu verdrängen, zu verkleinern. Die Notwendigkeit zur Versöhnung ist nicht das Ergebnis schlüssiger Beweisführung, sondern meist das Ende eines Prozesses von Konfrontation, Vertrauen und Annahme. Die Momente unseres Lebens, für die wir uns Versöhnung wünschen, sind zahlreich und nicht immer ist uns klar, bei wem der Ball gerade liegt. Im Abendmahl wird all das nicht unterschieden. Fest steht nur: Die Sehnsucht nach Versöhnung lässt uns hier stehen. Damals wie heute: Ein Leben, das uns fremd geworden ist, in denen Risse und Wunden die Sicherheit in Gefahr bringen, leben und lieben zu können. Damals die Hingabe Jesu, heute die Hingabe Gottes für uns: Wir blicken zum Kreuz – und sehen beides.

Alles zusammen
Ein inniger Wunsch nach gehalten und ausgehalten werden. Tränen, wenn die Risse zu tief scheinen. Eine gemeinsame Geschichte, die uns an uns selbst und an das erinnert, was so viel größer ist als wir selbst. Alles zusammen, alles gleichzeitig ist Liebe. Liebe am Frühstückstisch, Liebe bei Käse und Wein, bei Kaffee und Kuchen, bei Nudeln mit Pesto, heruntergeschlungen in der kurzen Mittagspause zwischen hier und dort. Aber Hauptsache zusammen.

Hauptsache zusammen. Hauptsache, wir sehen uns. Hauptsache, wir halten uns kurz an den Händen. Hauptsache, es ist etwas Größeres, was uns zusammenhält. Hauptsache, Abendmahl.

Wer entscheidet darüber, wann es ein Abendmahl ist? Wer entscheidet darüber, wann es eine gebrochene Tradition ist? Wer entscheidet darüber, was für Dich Kelch des Heils ist? Und Brot des Lebens und gegessen und getrunken in Deinem Geist?

Wir versuchen, das schönste und größte Symbol des christlichen Glaubens ganz fest zu halten, wenn wir darüber diskutieren, ob ein Abendmahl mit Süßigkeiten ein Abendmahl sein kann. Wir errichten Zäune, Wegweiser, Stoppschilder. Vorfahrtsregeln, Zutatenlisten und Leuchtreklamen.
Einsetzungsworte, check. Erinnerung an die jüdische Tradition, check. Brot und Wein, check. Hostie ist ok, Saft auch, check.

Niemals, so die Überzeugung dahinter, dürfen wir das Abendmahl leichtfertig dahingeben. Einen Freifahrtsschein ausstellen für alles, was Essen und Teilen und Gemeinschaft und Erinnern und Versöhnen anders lebt. Und eine große, große Angst steht hinter all dem: Nimm es mir nicht. Nehmt es uns nicht. Und so stellen wir Schilder auf und errichten Regeln, die unseren Schatz bewachen sollen. Und merken nicht, dass wir stattdessen unsere Angst beschützen.

Die Angst, nicht die Liebe. Die Angst, nicht die Freiheit. Die Angst, nicht die Hingabe.

Das Abendmahl wird niemals ein leichtfertiges Essen sein. Es ist größer als wir. Und deshalb müssen wir es nicht beschützen. Es trägt und hält und schützt sich selbst.
Wer da glaubt, der wird Gnade empfangen. Wer im Glauben isst, wird heil werden. Wird Angst überwinden. Wird Freiheit spüren, jetzt und hier und schmecken, was er einst sehen wird. Wenn der Schmerz vorbei ist und alle Grenzen verwischen. Wenn wir uns fallen lassen können in Liebe.
Und bis dahin stehen wir in Halbkreisen.
Sitzen an gedeckten Tischen.
Schmecken bitter, salzig, sauer, süß.
Hauptsache, Abendmahl.

Hintergrund

Dieser Text ist mein persönlicher Beitrag zu der aktuell nur intern bzw. auf Social Media von den Betroffenen geführten Debatte um den Entwurf der ehrenamtlichen Projektleitung Feierabendmahl des Deutschen Evangelischen Kirchentags 2025 in Hannover. Die Mitglieder der PL hatten zwei Entwürfe verfasst, die Kirchengemeinden bei der Durchführung von sogenannten Feierabendmahls-Gottesdiensten inspirieren und unterstützen sollten. Das Feierabendmahl ist eine Tradition seit dem Kirchentag 1979 in Nürnberg. Auf dem Kirchentag 2023 in Nürnberg wurde es beispielsweise in der Lorenzkirche als Mysterion gefeiert, mit elektronischer Musik, Lichtinstallationen sowie alkoholfreiem Gin Tonic und Fladenbrot.

Einer der beiden Entwürfe der diesjährigen PL schlug ein Feierabendmahl mit dem Titel „Abendmahl mit Wundertüte“ vor. Es entbrannte vor allem aus kirchenleitender Ebene sowie unter prominenten Theologen großer Protest darüber, dass dieser Entwurf nicht als Abendmahl gelten könne, sondern nur als Agapemahl.

Die Debatte wurde bislang nicht öffentlich geführt, bzw. nur ihre Auswirkungen wurden öffentlich gemacht. Das offizielle Statement des Kirchentags ist hier zu lesen:

https://www.kirchentag.de/service/aktuelles/hannover/maerz-2025/feierabendmahl

Transparenzhinweis: Ich selbst bin Vorsitzende des ständigen Ausschuss AGOFF des Kirchentags (Abendmahl, Gottesdienst, Fest und Feier), der allerdings zu dieser Diskussion noch nicht offiziell Stellung bezogen hat. Seine Mitglieder sind jedoch auf unterschiedliche Art und Weise in der Meinungsbildung involviert, bzw vertreten ihre eigene theologische Haltung.

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